Publiziert im Deutschen Architektur Jahrbuch 2022, herausgegeben vom Deutschen Architekturmuseum und Y. Förster, C. Gräwe und P. C. Schmal, Verlag DOM Publishers.
Die staatliche Förderung von Eigenheimbesitz auf dem Land mag für viele europäische Ohren zunächst befremdlich klingen. Doch die rasante Verstädterung in Mexiko bringt die Infrastrukturen zahlreicher Städte an ihre Kapazitätsgrenzen. Um der Landflucht entgegenzuwirken, beschloss Infonavit (Instituto del Fondo Nacional de la Vivienda para los Trabajadores), das nationale Institut, das öffentlich finanzierte Baudarlehen und Wohnungsangebote für Geringverdiener anbietet, im Jahr 2016 neue Wege zu gehen. Vormals, in den 2000er Jahren, war der Staatsfond schwer gescheitert, als er überall im Land, fernab der Städte, riesige Wohnsiedlungen in monotonen Rasteranlagen errichtete, die dann leer standen. Erst in der Folge wurden Architekten hinzugezogen, um neue Ansätze zu entwickeln.
Im Jahr 2016 wurde das deutschmexikanische Architektenduo Zeller & Moye eingeladen, einen Einfamilienhaustyp für die Region um die Kleinstadt Coquimatlán im Bundesstaat Colima zu entwickeln. Kein bestimmtes Grundstück oder architektonischer Kontext wurden festgelegt; die Aufgabe bestand stattdessen darin, eine Typologie zu entwerfen, die für die Serienfertigung mit geringem Budget ausgelegt ist. Die klimatischen Bedingungen des Orts jedoch, an dem es ganzjährig heiß und feucht ist, sollten berücksichtigt werden.
Die Art und Weise, wie die Menschen in Colima die Innen und Außenräume nutzen, hat den Entwurf entscheidend beeinflusst: Das gemütliche Zusammen sitzen der señoras auf den schattigen Veranden vor den Häusern, die Familie, die um die Feuerstelle im Garten steht, wo Kaffee und salsa vor sich hin köcheln, und die Wohnungstür, die immer offensteht, damit die Luft im Inneren zirkulieren kann. Innen und Außen zusammen bilden den Lebensraum und das Thema, das Christoph Zeller und Ingrid Moye zum Leitmotiv ihres Entwurfs erklärten.
Die Architekten erfinden nichts neu, sondern suchen nach dem Bewährten und denken es neu. Wie vielerorts in Mexiko werden auch in Colima die Wohnhäuser in ländlichen Gegenden im Selbstbau errichtet. Es entstand die Idee einer modularen Architektur, bei der die künftigen Hausbesitzer die Bauvolumen selbst komponieren, anpassen und größtenteils eigenhändig bauen können; ein hochflexibles Baukastensystem, das auf jedes Grundstück und seinen Kontext in Form und Ausrichtung reagieren kann. Diese Wachstums- und Anpassungslogik findet ihre Umsetzung in einfachen Geometrien und ortstypischen Baumaterialien. Außerdem wird den Bauherren ein Sortiment von Elementen für den Außenbereich angeboten, wie etwa Sitzgelegenheiten, Kochstelle und Wassertrog.
Das durchdachte Konzept stand 2017 bereit für den Einsatz. Allerdings ticken die Uhren in Mexiko bei staatlichen Projekten nach dem politischen Wahlkampf. Die nächsten Präsidentschaftswahlen waren bereits für 2018 angesetzt, und die entwickelten Wohntypologien mussten schnellstmöglich in Prototypen umgesetzt werden. Kurzerhand wurde die Strategie geändert: Anstelle von Testhäusern pro Region entschied man sich, den Entwurf von Zeller & Moye sowie weitere 31 von nationalen und internationalen Architekturbüros in einer Legoähnlichen Anordnung nebeneinander auf einem Testgelände in der Ortschaft Apan, etwa 90 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt, zu bauen.
Für diese Bauausstellung wählte Zeller & Moye eine Volumenkonstellation ihres Baukastenprinzips namens «Casa Hilo», die dessen enorme Anpassungsfähigkeit demonstriert: Indem sich die Module der monofunktionalen Räume nur an ihren Ecken berühren, entsteht ein gelenkiges System. So verzahnen sich in der Basiskonfiguration vier leicht verdrehte Baukörper mit dem Garten, ohne dass eine klare Vorder- oder Rückseite des Hauses gebildet wird. Das 90 Quadratmeter große Haus besteht aus zwei Schlafzimmern, einer Küche und einem Badezimmer. Dank des Klimas in Colima kommt das Haus ohne Korridore aus. Das tägliche Leben bewegt sich frei zwischen geschlossenen Innenräumen, überdachten Veranden und den grünen Innenhöfen, die sowohl als Erschließungsraum als auch als erweitertes Wohnzimmer und Selbstversorgergarten fungieren.
Die erdbebensicheren Stahlbetonrahmen der Module ermöglichen Aufstockungen und sind mit vor Ort handgefertigten Lehmziegeln ausgefacht, die das Raumklima durch die Aufnahme von Feuchtigkeit und die Abgabe von Wärme regulieren. Fenster und Türen aus Bambusflechtwerk, aufgespannt auf Holz rahmen, sollen die ständige Luftzirkulation fördern und dienen zugleich als Sichtschutz; geöffnet bieten sie gar Schattenplätze im Freien. Durch die Verwendung von leicht verfügbaren Ressourcen wie Beton, Lehm und Bambus ist das Haus erschwinglich und einfach zu bauen. Der rohe Charme der Baustoffe, die klimatischen und räumlichen Atmosphärenbezüge und die radikale Trennung der einzelnen Räume – einzig durch einen hilo, einen Faden, verbunden – geben dem Haus seinen besonderen Charakter.
Die 32 Häuser in Apan wurden Anfang 2019, kurz nach dem Präsidentenwechsel, fertiggestellt. Das als Wohnlabor konzipierte Areal wurde nie genutzt und ist nach nur zwei Jahren eine Ruine.
Was den Architekten bleibt, ist die wertvolle Lernerfahrung und eine gewachsene Resilienz, die für die Schaffung von öffentlich finanzierter Architektur in Mexiko unerlässlich ist.
Publiziert im Deutschen Architektur Jahrbuch 2022, herausgegeben vom Deutschen Architekturmuseum und Y. Förster, C. Gräwe und P. C. Schmal, Verlag DOM Publishers.