© Dane Alonso
Vier Monate nach dem starken Erdbeben vom 19. September 2017 erhielt Karina die frohe Botschaft, dass ihr ein Haus geschenkt wird. Ein renommierter Architekt aus der Hauptstadt werde ihr Haus planen, hiess es weiter. Keine acht Monate später wurde das Haus in der mexikanischen Gemeinde Ocuilan de Arteaga für Karina und ihre kleine Familie fertiggestellt.
Die kleine Ortschaft Ocuilan im Bundesstaat Morelos wurde während des Erdbebens besonders stark in Mitleidenschaft gezogen. Mit den gespendeten Häusern soll die Lebensqualität von Menschen verbessert werden, die nicht nur schwere Verluste erlitten, sondern durch das Erdbeben oft traumatisiert sind und ein sicheres Zuhause brauchen. Karinas Haus ist eines von fünfzig, die bis Ende dieses Jahres dank privater Spenden – gesammelt von einer Gruppe Prominenter namens «Love Army» – und der Stiftung PienZa Sostenible errichtet werden. Die Kampagne erregte besonders viel öffentliche Aufmerksamkeit, als bekannt wurde, dass die renommiertesten Architekten Mexikos ehrenamtlich die Häuser entwerfen würden. Eine lokale Baufirma wurde beauftragt, alle Häuser zu erstellen aus Beton für die Fundamente, lokal gepressten Lehmblöcken in Ziegelform für die Wände und Kiefernholz für Türen und Fenster.
Das Grundstück von Karina ist winzig – ein sehr bescheidener Ort mit viel Leben. Um es zu erreichen, sucht sich der Besucher seinen Weg zwischen Tierställen und dem Haus ihrer Mutter. Ein weites Maisfeld, das an zwei Seiten an das Grundstück grenzt, lässt das Gelände von 75 Quadratmetern grösser erscheinen, als es ist. An die anderen Seiten grenzen die sehr einfachen Holz- und Betonziegelhäuser mit umliegenden Gärten von Karinas Geschwistern und ihrer Mutter. Der Aussenraum wird von der ganzen Familie viel genutzt: als Spielplatz für die Kinder, für den Gemüsegarten, für die Nutztiere und als familiärer Begegnungsort.
Das sah auch der Architekt Francisco Pardo, der das Haus für Karina und ihre Familie entworfen hat. Gemeinsam mit der Familie besprach er, welche Räume benötigt werden. Der Architekt überzeugte sie, dass die Grundfläche des Hauses so klein wie möglich gehalten werden müsse, um genügend Gartenfläche zu haben. Trotz der Angst der Familie vor Erdbeben und dem Wunsch, so schnell wie möglich nach draussen zu fliehen, stimmten sie einem zweistöckigen Haus und der räumlichen Interpretation des Architekten zu, ohne sie wirklich zu verstehen.
Pardo hat ein Wohnhaus verwirklicht, das die architektonische Gemeinschaft fasziniert. Wie eine Skulptur überragt das Gebäude das Maisfeld am Rande des Dorfes. Die geschickte Dreiteilung des Volumens mit einer Grundfläche von rund 25 Quadratmeter führt zu eleganten vertikalen Proportionen. Die Raumaufteilung ist einfach: Im Erdgeschoss befindet sich im Freien die überdachte Küche, auf der einen Seite das Bad, auf der anderen der Eingang mit einem kleinen Wohnbereich; im Obergeschoss liegen die zwei Schlafzimmer mit Zugang zu einer Dachterrasse, von der aus man einen grossartigen Blick über Ocuilan hat. Der fliessende Raum in der Mitte des Erdgeschosses, die Abrundung einer Hausecke und die akzentuierte, aussen anliegende Treppe geben dem Haus einen ganz eigenen Charakter. Im Dorf wird es treffend das «Schlösschen» genannt.
Nach anfänglicher Euphorie werden die «geschenkten» Häuser inzwischen von der Gemeinde auch kritisch gesehen. Zwei Jahre nach der Fertigstellung der ersten Häuser sind einige bereits renovierungsbedürftig: Durch das Quellen und Schwinden des Holzes können die Türen nicht mehr geöffnet werden, die Lehmziegelsteine sind nicht wasserdicht, und die Häuser werden nicht so genutzt, wie die Architekten es sich vorgestellt haben. Diese wollten die Lebensweise der Bewohner verbessern – doch haben sich zu wenig mit ihren Bedürfnissen befasst. Karina steht die Dankbarkeit über ihr Haus ins Gesicht geschrieben. Aber sie sagt auch, dass ihr die schöne Dachterrasse nichts nützt und dass sie die hübsche Aussenküche nie benutzen konnte, weil Wind, Regen und Tiere diesen Raum beherrschen. Die Projekte der renommierten Architekten sind einzigartig – jedes auf seine Weise. Aber Karina hätte nichts dagegen gehabt, ein Haus zu haben, das weniger Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein bescheidenes, praktisches Haus hätte genügt, auch wenn die Schönheit des «Schlösschens» nicht zu bestreiten ist.