Das Aufeinandertreffen der Kirchenepochen © Laure Nashed
1. Sechzig Zentimeter erdbebensichere Betonbögen, 2. Die nackte Kirchenglocke und unerwünschte Sonnenplätze, 3. Im Innern strahlen Ziegel Wärme aus, 4. Der Altar im tiefsten Bereich des Kirchenschiffs, 5. Zwischen architektonischem Begehren und Realität, 6. Raum, in dem Licht, Luft und Klima passieren können, 7. Die zeitlose Urform des Kirchenturms © Laure Nashed
Die Baustelle hinterliess bereits im Winter vor einem Jahr einen vielversprechenden Eindruck: Vier Bögen mit achtzehn und sechsundzwanzig Metern Spannweite und ein ikonischer Turm entstanden neben beeindruckenden Kirchenruinen aus dem 16., 17. und 19. Jahrhundert. Eine Rückkehr nach Jojutla, im mexikanischen Bundesstaat Morelos, zur Besichtigung der fertigen Kirche war garantiert. Die Erwartungen waren besonders hoch, als die von den Architekten Dellekamp + Schleich und Agenda entworfene Kirche mit dem zweiten Platz beim Internationalen Preis für Sakralarchitektur der Stiftung Frate Sole in Padua ausgezeichnet wurde. Die geweckten hohen Erwartungen wurden leider enttäuscht. Trotz allem ist die Auszeichnung nicht überraschend. Die von der Stiftung in Padua gewünschte «geistliche Atmosphäre sowie mutige Innovationen ausserhalb jeglicher Konventionalität» erreicht die Kirche in Jojutla zweifellos.
Das langgestreckte Kirchenschiff wird von vier grossen Bögen flankiert, die den tiefer gelegenen «Bauch» der Kirche überspannen. Fragil und zugleich robust präsentiert sich die formschöne Kirche ohne Aussenwände. Der Kirchturm, ein einfaches Rechteck überragt das Städtchen Jojutla. An der Spitze des Turms ist das Kreuz als ausgestanzte Form markiert. Die Kirchenglocke präsentiert sich ohne schützende Turmwände, nackt an derselben Fassade. Es entsteht das Gefühl, eine solche Kirche nie gesehen zu haben und doch auswendig zu kennen. Neben Assoziationen zu einfachen Kinderzeichnungen von Kirchen zieht man Referenzen zu einer Architektur von Félix Candela, Louis Kahn oder Jørn Utzon und der Postmoderne.
Architektonische Experimente für Jojutla
Die starke Vereinfachung einer Typologie auf ihre wesentlichen Elemente und die Synthese von Notwendigkeit und Ästhetik gehören zu den Merkmalen der Arbeit der Architekten Dellekamp + Schleich. Gemeinsam mit dem kolumbianischen Architekturbüro Agenda wurden sie eingeladen, ein Symbol der Hoffnung und zugleich einen Meilenstein des sozialen Zusammenhalts zu schaffen, nachdem die vorherige Kirche nach dem verheerenden Erdbeben 2017 eingestürzt war. Im Vergleich zu den anderen Wiederaufbauprojekten in Mexiko hatte man sich in Jojutla entschieden, die öffentlichen Gelder nicht etwa für Wohnprojekte, sondern für den öffentlichen Raum zu verwenden. Nur ein Bruchteil des Geldes wurde für den dringend notwendigen Wiederaufbau von Wohngebäuden eingesetzt. Im Gegenzug erhielt Jojutla sechs öffentliche Anlagen von renommierten Architekten aus der Hauptstadt. Alle Bauwerke wurden in weniger als zwei Jahren fertiggestellt. Sie eint eine experimentelle Haltung, die durch die geringe Normierungsdichte und die für Mexiko typische Pioniermentalität der Bauherrschaften ermöglicht wurde.
Erdbebenfeste Offenheit
Besonders bei der Kirche der Architekten Dellekamp + Schleich zusammen mit Agenda wurde der strukturelle Einfallsreichtum bis an die Grenzen getrieben. Die sechzig Zentimeter breiten Betonwände schaffen eine Dualität zwischen Offenheit und Leichtigkeit gegenüber Robustheit und Strenge. Der fliessende Übergang zum Innenraum der Kirche wird durch einen Materialwechsel spürbar gemacht. Die unteren Wände, der Boden und das Tonnengewölbe sind mit Ziegeln geformt. Das Gebäude knüpft damit an lokale Traditionen an – und es weist eine angenehme, warme Atmosphäre auf. Die optische Rahmung des Innenraums durch grosse Bögen schafft einen Raum, der sowohl introvertiert wie auch offen ist. Gerade in der aktuellen Covid-19-Pandemie ist dieser lichterfüllte und klimatisch exponierte Ort, in dem die Luft zirkulieren kann sehr willkommen.
Zugängliche Kirche
Die Kirchenapsis erreichen Pastor und Besucher über Stufen zwischen den beiden Kirchenbankreihen. Menschen mit Beeinträchtigungen müssen sich wegen der Treppen mit den oberen Kirchenbänken abfinden. Diese sind durch die vielen älteren Besucher überfüllt. In diesem Bereich wurde der Sonnenschutz ausgelassen, so dass die Bedürftigsten der starken mexikanischen Sonne ausgesetzt sind. Da der Regen durch die szenisch angeordneten Dachöffnungen hinter dem Altar und unter dem Kirchturm eindrang, versuchten die Gemeindemitglieder mit unglücklichen Lösungen Abhilfe zu schaffen. Die Idee, sich mit der Natur, der Umgebung und dem Wetter verbinden zu wollen, ist durchaus bemerkenswert. Allerdings haben die Architekten diesem Konzept mehr Gewicht gegeben als dem Schutz vor Regen, Wind und Sonne.
Auch wenn die Kirche funktionale Probleme aufweist, ist sie bei der Bevölkerung von Jojutla beliebt. Vielleicht gerade wegen ihrer ikonischen Form und sicherlich wegen ihrer offenen Gestaltung. Hoffentlich liess die luftige Kirche die Menschen in diesen schwierigen Zeiten zu Weihnachten zusammenzukommen. Und vielleicht finden die Architekten noch einen Weg, die funktionalen Mängel des weitgehend gelungenen Experiments zu beheben, damit die Kirche ein Ort für alle wird.
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