Die Angst ist da, bei jedem Schritt

09.03.2022

Die Angst ist da, bei jedem Schritt

09.03.2022

09.03.2022

1. Die jungen Mütter Tzideni und Azalea vor der orangefarbenen Metro aus den 70er Jahren in Mexiko-Stadt, 2. Vorbei an den männlichen Musikhelden Mexikos in der schlecht beleuchteten U-Bahn-Unterführung, 3. Tzideni im dunklen Fernbus nach Acolman, wo es immer wieder zu Raubüberfällen und sexueller Belästigung kommt, 4. Azalea im rosa Frauenbus auf dem Weg nach Ecatepec, einem der tödlichsten Orte für Frauen weltweit, 5. Wachsam und mit dem Cutter in der Hosentasche läuft Azalea die dunklen 10 Minuten nach Hause, 6. Azaleas neunjährige Tochter sieht ihre Mutter unter der Woche kaum © Paola García

In der U-Bahn von Mexiko-Stadt haben Männer keinen Zutritt zu den ersten drei Wagen – das schützt die Frauen vor Gewalt.

NZZ Feuilleton 08.03.2022

 

Durch den lauten Fahrtwind und das Geräusch der alten Lüftungsanlage dringen aus einer Ecke des Waggons heitere Frauenstimmen. Trotz dem Lärm und der stickigen, schwülen Luft ist die Stimmung im Frauenwaggon der orangefarbenen U-Bahn in Mexiko-Stadt gelassen. Es sitzen sich Frauen jeden Alters gegenüber – sie plaudern, schauen auf ihr Handy, lesen ein Buch oder schlafen. Ihre Mimik lässt sich hinter den farbenfrohen, floral bestickten Stoffmasken oder medizinischen Gesichtsmasken erahnen, die Geräusche sprechen für sich.

 

Bereits ein Jahr nach der Eröffnung des U-Bahn-Netzes in der mexikanischen Hauptstadt 1970 wurden die ersten beiden Wagen für Frauen und Kinder reserviert. Diese Regelung wurde jedoch nur während der Hauptverkehrszeiten und nur auf bestimmten Strecken angewandt. Erst dreissig Jahre später wurden die Frauenwaggons auf fast allen U-Bahn-Linien eingeführt. Seit 2016 sind die ersten drei Wagen nun durchgehend den Frauen und Kindern vorbehalten, und die Trennung findet bereits auf dem Bahnsteig statt. Parallel dazu wurde die Bestrafung eingeführt: Männer, die die Frauenabteile betreten, können mit 25 bis 36 Stunden Arrest bestraft werden.

 

Die Frauenwaggons haben nicht alle Probleme aus der Welt geschafft: In einer Umfrage von UN Women unter rund 3200 Frauen im August 2017 gaben neun von zehn Teilnehmerinnen an, schon einmal in öffentlichen Verkehrsmitteln sexuell belästigt worden zu sein.

 

Zwei Frauen auf dem Heimweg

An diesem Freitagabend Ende Februar führt uns die Fahrt in den Norden der 22-Millionen-Einwohner-Metropole. Den Fahrgästen steht die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. Die meisten im Waggon nutzen die Metro und die öffentlichen Verkehrsmittel von Mexiko-Stadt und der Metropolregion drei oder mehr Stunden am Tag.

 

Das trifft auch auf Azalea, 28, und Tzideni, 32, zu: Sie verlassen ihr Zuhause um sieben Uhr morgens und kehren abends erst um neun oder zehn Uhr zurück. Für diese Reise wählen die jungen Frauen einen anderen Weg als die Männer: Nach der Fahrt in nur für Frauen reservierten Metrowagen und Bussen wählen sie die gefühlsmässig sicherere Route, nicht die kürzere.

 

Azalea und Tzideni sind Arbeitskolleginnen in einem Raumplanungsbüro und fahren oft gemeinsam vom Arbeitsplatz im Zentrum von Mexiko-Stadt zur Metro-Endstation Indios Verdes im Norden. Die rund 40 Minuten, die die jungen Frauen jeweils in der U-Bahn verbringen, beschreiben sie als «ihren» Moment: Hier sind sie weder Tochter, Ehefrau, Mutter noch Angestellte. Im Frauenwaggon befinden sie sich in einer anderen, kleinen Welt, in der niemand Erwartungen an sie stellt. Hier können sie Serien auf dem Handy schauen oder gemütlich Musik hören, wozu sie sonst nur selten Gelegenheit haben.

 

Im Waggon sind Männer unerwünscht

Auch wenn die Frauenabteile ihnen keinen Schutz vor Diebstahl bieten, fühlen sich Tzideni und Azalea hier wesentlich sicherer. Die Angst vor Gewalt, körperlicher Belästigung, beleidigenden Worten oder anzüglichen Blicken verfliegt während der Zeit, die sie in der Metro verbringen.

 

Nach einer halben Stunde Fahrt öffnen die Türen in der Station Potrero. Eine Horde Männer strömt in das Abteil. Zwar schlägt die Stimmung im Waggon abrupt um, die weiblichen Fahrgäste scheinen aber nicht überrascht. Hier gebe es eine Ausnahme, erklärt Azalea. Für zwei Haltestellen, von hier bis zur Endstation, wechselten die Waggons zur gemischten Nutzung. Den Grund dafür kennen beide Frauen nicht. Während dieser kurzen Zeitspanne männlicher Anwesenheit ist es im Abteil deutlich enger, angespannter und stiller. Die geschwätzigen Frauen sind verstummt. Die Männer schauen sich um, während viele Frauen den Blicken ausweichen.

 

Die richtige Körpersprache im Menschenstrom

An der oberirdischen Endstation drängen die Fahrgäste zu allen Seiten aus der Metro und geraten in einen unübersichtlichen Menschenstrom. Es ist laut und hektisch. Trotz Kunstlicht ist es dunkel, das Licht flackert stellenweise, die Situation ist unübersichtlich. Hier trennen sich die Wege von Tzideni und Azalea. Auf dem verbleibenden Abschnitt ihrer jeweiligen Heimreise wird ihre Unsicherheit grösser sein, doch die beiden sonst meist schüchternen Frauen bewegen sich dezidiert selbstbewusst.

 

In dem veralteten Fernbus, der Tzideni zu ihrem Wohnort in Acolman im Bundesstaat Estado de México nördlich von Mexiko-Stadt bringt, ist es dunkel und stickig. Es sitzen hier vor allem Männer. Sie hat in diesem Bus bereits mehrere Raubüberfälle und wiederholt sexuelle Belästigungen erlebt. Wie 86 Prozent der Frauen, so der Bericht von UN Women, hat auch sie noch nie Anzeige gegen einen Belästiger erstattet. Ihr fehlt das Vertrauen in die Behörden. Vielmehr befürchtet sie, dass die Beamten ihr nicht glauben würden. Sobald der Bus abfährt, tippt sie eine Nachricht an ihren Mann in ihr Mobiltelefon. Je nach Verkehrslage erreicht sie die Haltestelle nahe ihrer Wohnung in einer halben bis ganzen Stunde. Ihr vierjähriger Sohn wartet zu Hause darauf, dass sie ihn zum Schlafen hinlegt.

Für Frauen der gefährlichste Wohnort der Welt

Auf der gegenüberliegenden Seite des Busbahnhofs schlängelt sich Azalea zwischen Menschen und stehenden Bussen hindurch. Zielstrebig geht sie auf eine der vielen langen Warteschlangen zu. Bis vor einem Jahr gab es nur die privaten Kleinbusse, um von hier nach Ecatepec zu gelangen, wo sie mit ihren Eltern und ihrer neunjährigen Tochter lebt. Ecatepec gilt als der gefährlichste Ort der Welt für Frauen, wie die Medien immer wieder über «Mexikos Extremzone der Gewalt gegen Frauen» berichten.

 

In den kleinen Bussen sitzen die Passagiere eng beieinander. Der riskante Fahrstil der Chauffeure verstärkt den Körperkontakt. Seit ein paar Monaten gibt es öffentliche Busse, einige wenige davon sind für Frauen und Kinder bestimmt. Auf den rosa Frauenbus müsse sie oft eine halbe Stunde länger warten als auf die anderen Transportmöglichkeiten. Doch das Warten lohne sich, erklärt mir Azalea inmitten der angespannten Atmosphäre am Busbahnhof. Immer wieder komme es hier zu Schlägereien.

 

Plötzlich rennen alle Frauen los zur erhöhten, hell erleuchteten Busplattform und drängen sich in den Bus, denn er hält nur kurz. Die Fahrt beginnt, und wir passieren die Barrios, die ärmsten Stadtteile von Ecatepec. In dieser Gegend fällt es besonders auf, wie viel Härte die Gesichter der Frauen ausstrahlen. Die schlimmen Nachrichten aus Ecatepec seien immer schwer zu verdauen, gesteht Azalea. Aber es ist ihre Heimat: Hier wächst ihre neunjährige Tochter auf, hier leben ihre Verwandten.

 

Cutter, Hund und Selbstvertrauen

Während der ganzen halbstündigen Fahrt im rosa Bus schickt auch die junge Mutter regelmässig Nachrichten zu ihrem gegenwärtigen Standort nach Hause. Vor dem nächsten Abschnitt ihres Heimwegs schreibt sie auch an ihren Vater, denn die letzten zehn Minuten zu Fuss bis zu ihrem Haus sind die unheimlichsten. In der Hosentasche trägt Azalea einen Cutter. Bisher hat sie nur bewaffnete Raubüberfälle in ihrer Strasse erlebt. Ihr sei noch nichts passiert, betont sie. Häufig ist sie auch mit ihrem beschützenden Begleiter, ihrem Hund, unterwegs.

 

Der Weg führt über eine wackelige, dürftig konstruierte Fussgängerbrücke. Ein kleiner Lebensmittelmarkt markiert auffällig leuchtend die Strassenecke. Hier biegt sie ab. Es sind nur wenige Menschen unterwegs, soweit man das in der Dunkelheit erkennen kann. Vereinzelte Strassenlaternen erfüllen ihre Funktion nur schlecht oder gar nicht.

 

Doch die wachsame junge Frau lässt nicht zu, dass die Angst ihr Leben bestimmt. Azaleas Blick bewegt sich ständig zwischen dem unebenen Strassenrand, dem Weg vor ihr und der Dunkelheit hinter ihr. An besonders düsteren Stellen, bei parkierten Autos oder wenn sie Schatten erspäht, wechselt sie die Strassenseite. Schliesslich öffnet uns ein Wachmann das Eingangstor ihres «fraccionamiento», einer Siedlung mit rund 300 Sozialwohnungen, dort wartet Azaleas Tochter.

 

Trotz der seit Jahrzehnten herrschenden brutalen Gewalt gegen Frauen und trotz dem fehlenden politischen Willen, dezidiert gegen diese Missstände vorzugehen, machen sich Azalea und Tzideni jeden Tag auf den Weg zur Arbeit. Auch wenn sie dabei auf Schritt und Tritt mit den gewaltsamen Auswüchsen des mexikanischen Machismo konfrontiert werden.

Publiziert im Feuilleton der NZZ am 8. März 2022 © NZZ