Publiziert im Feuilleton der NZZ am 26. Oktober 2021 © NZZ
Ein halbes Jahrhundert lang wurde die arme Bevölkerung vernachlässigt: Mit tausend Projekten soll die Architektur nun eine bessere Zukunft bringen.
Die amerikanischen Filmproduktionen lassen keine Gelegenheit aus, der Welt die Probleme der mexikanischen Nachbarn wie Drogenkriege, Gewalt oder Armut vor Augen zu führen. Internationale Architekturzeitschriften wiederum verbreiten das totale Gegenbild: imposante, stimmungsvolle Villen von namhaften Architekten. Dort zeigt sich Mexiko von seiner grandiosen Seite: Die Baukunst wird vorwiegend ins beste Licht gestellt.
Diese Glanzstücke sind aber Teil eines schwerwiegenden Problems Mexikos: der extremen sozialen Ungleichheit. Jahrzehntelang entwarfen die Architekten nur für die Reichsten des Landes. Doch seit kurzem zeichnet sich eine Aufbruchstimmung ab, und eine neue Generation widmet sich der Aufgabe, auch für die Ärmsten Lebensraum zu schaffen.
Vernachlässigter öffentlicher Raum
Während der Blütezeit der öffentlichen Architektur in der Mitte des 20. Jahrhunderts schufen mexikanische Architekten Krankenhäuser, Schulen, Bibliotheken und andere öffentliche Gebäude. Die Abkehr von sozialen und öffentlichen Aufgaben zeichnete sich ab den 1970er Jahren ab. Nach den blutigen Studentenprotesten in Mexiko-Stadt 1968 konzentrierte sich die Regierung verstärkt auf die Elite des Landes.
Architektinnen und Architekten wurden kaum noch beauftragt, hochwertigen Sozialwohnbau oder öffentliche Bauten zu entwerfen. Die notwendigen Infrastrukturen wurden von Beamten technisch umgesetzt, meist unter hohem Zeit- und Kostendruck und ohne jede Art von Gestaltungswillen oder Gefühl für das soziale Leben vor Ort. Zwar verwirklichten Stararchitekten ab und zu ikonische Vorzeigeprojekte in gehobenen Stadtteilen, diese kommen aber nur einer kleinen Minderheit zugute.
Während Politiker und Architekten ein halbes Jahrhundert lang auf Wohlstand setzten, nahm im gleichen Zeitraum das unkontrollierte Wachstum der Städte und damit der Mangel an grundlegender Infrastruktur drastisch zu. Laut mexikanischen Statistiken leben seit zwei Jahrzehnten über vierzig Prozent der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Trotzdem wurde den entstandenen Armutsgebieten keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Hastige Transformation des Landes
Ein starkes Erdbeben im Jahr 2017 rückte die Kluft zwischen Arm und Reich unübersehbar zutage. Mit der tiefen Gewissheit, dass die Politik die notleidende Bevölkerung nicht ausreichend unterstützen würde, entstand kurz nach dem Erdbeben innerhalb der Architekturszene ein kollektiver Erwartungsdruck für den Wiederaufbau. Rund 400 Architekten schlossen sich in der Bewegung Reconstruir México zusammen, um in vom Erdbeben schwer getroffenen ländlichen Gemeinden Wohnhäuser und einige öffentliche Bauten zu errichten.
Statt für die Reichsten des Landes zu entwerfen, planten die Architekten nun oft ehrenamtlich auch für die Ärmsten. Doch dieses Engagement für eine soziale Verantwortung war für viele der beteiligten Architekten nicht von Dauer.
Der 2018 gewählte Präsident Andrés Manuel López Obrador (kurz: Amlo) will das krisengeschüttelte Land während seiner sechsjährigen Amtszeit entscheidend umgestalten. Zu den wichtigsten Bauprojekten, die Mexiko seit dem historischen Linksrutsch revolutionieren sollen, gehören ein neuer internationaler Flughafen, der Bau einer Touristenzugstrecke, die Errichtung einer Raffinerie und über 1000 neue öffentliche Infrastrukturen. Das Geld für sein als «vierte Transformation des Landes» (4T) angekündigtes Programm soll aus massiven Einsparungen im Bildungs- und Kulturbereich, Lohn- und Personalkürzungen im Regierungsapparat und aus dem Abbau der Korruption kommen.
Heute bleiben Amlo noch drei Jahre, um seine megalomanen Pläne zu vollenden. Bis März 2022 – also in absurder Rekordzeit – soll 45 Kilometer vom historischen Hauptstadtkern entfernt der gigantische neue Flughafen entstehen. Die Renderings zeigen viel Stahl, Glas und Einfallslosigkeit. Viele der Projekte und das Vorgehen des Präsidenten sind höchst umstritten, vom wohlhabenden Unternehmer bis zum Taxifahrer beschweren sich derzeit alle. In einem Punkt sind sich aber zumindest die Architekten einig: Es ist höchste Zeit für öffentliche Bauaufgaben.
Fast 800 Bauprojekte in drei Jahren
An die Architektur werden hohe Erwartungen geknüpft, denn in offiziellen Dokumenten des zuständigen Ministeriums für Landwirtschafts-, Gebiets- und Stadtentwicklung (Sedatu) wird sie als «Instrument des sozialen Wandels» beschrieben. Der Wille zur Veränderung und die Überzeugung, dass ihre Bauwerke tatsächlich zu einer Verbesserung der Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung führen können, werden auch von den beteiligten Architekten geteilt. Die Gestaltung der Markthallen, Gemeindezentren, Parkanlagen, Skateparks und Strassenbeleuchtungen wurden als Direktauftrag vergeben. Dies begründet das Sedatu-Ministerium mit dem hohen Zeitdruck, unter dem Konkurrenzverfahren nicht möglich seien. So wünschenswert und wichtig Wettbewerbe für die Qualität und den Diskurs in Mexiko auch wären – den mexikanischen Behörden fehlt die Erfahrung im Umgang mit Wettbewerben ohnehin.
Diese Architekturprojekte entstehen unter enormem Zeitdruck, oft mit unzureichenden Grundlagen und in teilweise für die am Bau Beteiligten gefährlichen Regionen. Trotz diesen äusserst schwierigen Bedingungen schaffen Mexikos Baukünstler eine beeindruckende Vielfalt. Wie beim Wiederaufbau nach einem Erdbeben gehen die einen mehr, die anderen weniger sensibel mit der Aufgabe, den Menschen und der Umgebung um.
Kräftige geometrische Formen sowie Rot- und Erdtöne liegen derzeit im Trend, wobei sich das in Mexiko schnell ändern kann. Im Kontext dieses Belebens vernachlässigter Orte kann es durchaus sinnvoll sein, ikonische Wahrzeichen zu schaffen, mit denen sich die Bevölkerung gerne identifiziert. Was oftmals aufgrund mangelnder Erfahrung mit öffentlichen Bauvorhaben fehlt, ist das Bewusstsein dafür, dass die Instandhaltung der Projekte minimal und einfach sein muss. Bei falscher Materialwahl oder Gestaltung kann der Bau schon bald zur Ruine werden.
Wie so oft in Mexiko stellen sich viele Fragen zur Zukunftsfähigkeit. Die nächste Regierung in drei Jahren will sich womöglich gar nicht mit der öffentlichen Architektur befassen. Aber ohne politische Programme, ohne soziales Verantwortungsbewusstsein und ohne einen handlungsfähigen Berufsverband werden die Architekten erneut nur für die Reichsten arbeiten. Die Zeit wird zeigen, ob die architektonische Turbo-Akupunktur von Amlo tatsächlich ein Motor für einen langfristigen Wandel sein kann und welches Bild von Mexiko daraus entsteht.