Publiziert im November-Heft 2021 der Zeitschrift werk, bauen + wohnen
Architektur ist eine wichtige Botschafterin für den sozialen Wandel. Mit staatlichen Projekten werden die ärmsten und gefährlichsten Orte Mexikos in Windeseile aufgewertet – hoffentlich über eine Amtszeit hinaus: Denn Sport und Kultur holen die Menschen von der Strasse.
Der mexikanische Präsident will Geschichte schreiben: Nach den Ereignissen des Unabhängigkeitskriegs (1810 – 21), nach Reformkrieg (1858 – 61) und Revolution (1910 – 17) sei im Sommer 2018 die Zeit gekommen für eine «vierte Transformation» – erreicht werden soll sie in nur sechs Jahren. Nach jahrzehntelanger Politik der herrschenden Elite und zunehmenden Korruptionsskandalen, nach Gewalt, Armut und Straflosigkeit wurde der Links-Nationalist Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO zum neuen Präsidenten Mexikos gewählt. Es bleiben ihm noch drei Jahre in seiner Amtszeit, danach wird, wie üblich, das gesamte Regierungspersonal ausgetauscht, auch wenn der nächste Präsident derselben Partei angehört. Obwohl kaum jemand bezweifelt, dass in Mexiko radikale Veränderungen notwendig sind, so drängt sich die Frage auf: Wie will man ein von Problemen geplagtes Land in nur sechs Jahren grundlegend umgestalten?
Aufwertung durch Architektur
Eine Rolle in diesem Kampf soll der Architektur zukommen. AMLO will sie für seine Transformation «als Instrument des sozialen Wandels» nutzen, wie es offiziell in den Dokumenten des Ministeriums für Landwirtschafts-, Gebiets- und Stadtentwicklung (Sedatu) heisst. Dessen Vorsteher ist ein junger Architekt: Im Alter von 35 Jahren übernahm Román Meyer Falcón die Leitung. In nur drei Jahren rief er das Programa de Mejoramiento Urbano (PMU) ins Leben; das Programm zur Aufwertung urbaner Räume verwirklichte inzwischen bereits mehr als 700 öffentliche Infrastrukturen im ganzen Land. Die bisherigen Ergebnisse sind breit gefächert: von grossen Einrichtungen wie Märkten und Gemeindezentren bis hin zu Skateparks, Parkanlagen und neuer Strassenbeleuchtung. Tatsächlich ist der Bedarf an Aufwertungsprojekten riesig, zumal rund ein halbes Jahrhundert lang kaum öffentliche Architektur realisiert wurde. Einkaufszentren boten vielerorts und für lange Zeit den einzigen «öffentlichen» Raum. Hin und wieder entstand in wohlhabenden Gegenden des Landes ein Vorzeigeprojekt, entworfen von einem berühmten Namen.
Die Bevölkerung Mexikos wuchs zwischen 1970 und 2018 von 52 auf 126 Millionen an. Im gleichen Zeitraum nahm der Wohlstand in den reichen Quartieren eklatant zu, während die armen und unkontrolliert wachsenden Stadtgebiete ohne auch nur die grundlegendsten Einrichtungen auskommen mussten. Bis zum Regierungswechsel 2018 schenkten die Politiker den Armutsgebieten wenig Aufmerksamkeit, obwohl über 40 Prozent der Bevölkerung – und damit auch der Wahlberechtigten – in diesen Gegenden leben.
Ein grosses Dach, das alles kann
Genau in diesen benachteiligten Gebieten setzt das PMU-Programm von Meyer Falcón an, um «der Gewalt entgegenzuwirken und das soziale Gefüge zu stärken», wie es heisst. Das ehrgeizige Vorhaben soll so viele hilfsbedürftige Menschen wie möglich erreichen. Quantität steht also ganz oben auf der Agenda, und damit einher geht ein hoher Zeitdruck. Nach mexikanischer Mentalität sind vollständig durchdachte Projekte und Perfektion nicht das Ziel, und angesichts des engen Zeitrahmens auch nicht realisierbar. Stattdessen lautet die Devise Vamos pues! («legen wir mal los!»), und gegebenenfalls werden im Prozess Korrekturen vorgenommen.
Ein eigens für die neuen Möglichkeiten der öffentlichen Architektur in Mexiko gegründetes Kollektiv von fünf Architekten, das sich «Cósmica, 7ógica, 3ficiencia, 3conomía» («kosmisch, logisch, effizient, wirtschaftlich», mit auf den Kopf gestellten Anfangsbuchstaben) oder Colectivo C733 nennt, war von Anbeginn an den PMU-Projekten beteiligt und konnte sich seither über Direktaufträge eine langfristige Zusammenarbeit sichern. In den Jahren 2019 und 2020 standen den Architekten nur drei Monate von der ersten Skizze bis zum Baustart zur Verfügung. Um jeweils dennoch die höchstmögliche Qualität zu erreichen, entschied sich das Kollektiv für eine vereinfachte, systematisierte Architektur, die es für seine im ganzen Land verteilten Projekte einsetzt. Verkürzt gesagt, handelt es sich bei diesen Interventionen stets um ein grosses Dach, das alles kann.
Offen für Aktivität und Durchmischung
Eine der bisher grössten Dachstrukturen von C733 wurde im August 2021 in der Stadt Tapachula im Süden des Landes eingeweiht. Tapachula liegt etwa 30 Kilometer von der Grenze zu Guatemala entfernt und ist das zentrale Tor für Migranten, die versuchen, aus Mittel- und Südamerika über Mexiko in die USA zu gelangen. Die illegale und gefährliche Mitfahrt auf dem Rücken des Güterzuges La Bestia wird dafür von Tausenden genutzt. Dieser fuhr auch mitten durch Tapachula, bis ein Hurrikan im Jahr 2005 die Gleise zerstörte. Nach der Katastrophe verlor der um 1930 erbaute Bahnhof seine Funktion und wurde zu einer Mülldeponie. Erst 2018 setzte sich eine Bürgerinitiative dafür ein, das Areal vom Müll zu befreien und das Bahnhofsgebäude für kleine Ausstellungen und Konzerte zu nutzen. 2020 als PMU- Aufwertungsprojekt des Sedatu auserkoren, wurde der Ort instandgesetzt. Zwei neue Dachstrukturen von C733 schaffen wettergeschützte Freiräume für Sport- und Kulturveranstaltungen.
Die zwei 19 Meter hohen Dreiecksformen ragen zu beiden Seiten des alten Bahnhofs majestätisch in die Höhe. Kräftige, grüne Stahlträger alle sechs Meter demonstrieren die grossen Spannweiten und erinnern so an Bahnhofshallen aus dem Industriezeitalter. Die Bambusverkleidung auf der Dachinnenseite verankert das Bauwerk in seiner tropischen Umgebung, fungiert als Wärme- und Schalldämpfer und sorgt für eine dahinter liegende Installationsebene. Die 66 und 120 Meter langen Dächer stützen sich auf Betonpyramiden, die über ihre gesamte Länge verteilte, vermietbare Räume sowie mehrere Toilettenanlagen enthalten. Quer zum First verbinden an vier Stellen Passagen die Anlage mit den Nachbarquartieren. Der Blick von aussen durch die Durchgänge offenbart Basketballfelder, Reihen von Zuschauertribünen, Picknicktische und einen Kinderspielplatz, der sowohl Ortsansässige als auch die vielen Durchreisenden anlockt: Sport und Kultur vereinen das Volk unter einem imposanten Dach.
Die Offenheit der Kultur- und Sportstätte ist dank des tropischen Klimas in Tapachula möglich. Das Dach sorgt mit offener Basis und offenem First für die notwendige Ventilation und schützt zugleich vor den häufigen starken Regenfällen. Allerdings sind gerade die seitlichen Zuschauerplätze dem Regen schutzlos ausgeliefert, da das Dach hier ausgespart wurde. Obwohl die Resonanz auf die neuen Ikonen in Tapachula überwiegend positiv ausfällt, befürchtet das aus der Bürgerinitiative 2018 hervorgegangene Komitee vor allem, dass das auf staatlicher Ebene geplante teure Projekt bald nicht mehr so aussehen wird wie kurz nach seiner Einweihung und der Übergabe an die Gemeinde.
Trotz der auf den ersten Blick einfachen Materialisierung – Stahl, Sichtbeton, Dachblech und Bambus – sorgt sich das Komitee, dass die lokale Behörde vor allem mit der Instandhaltung des Materials Bambus und mit der Grösse des Projekts überfordert sein wird. Anstatt sich auf die Politik zu verlassen, sucht das ehrenamtliche Komitee bereits nach privaten Mitteln für den Unterhalt. Es greift damit den grössten Schwachpunkt der PMU-Projekte auf: Langfristigkeit und Instandhaltung sind nicht gegeben, unter anderem, weil den meisten Akteuren aufgrund einer bislang fehlenden Praxis mit öffentlichen Infrastruktur-Projekten die Erfahrung fehlt. Auch die Architekten haben bisher kaum Gelegenheit gehabt, öffentlich zu bauen. Sie finanzieren sich nach wie vor hauptsächlich über Projekte für die Reichsten, auch wenn sie diese zunehmend zurückhaltend präsentieren.
Quartiere verbinden mit neuen Orten
Gerade auf der Idee des minimalen Wartungsaufwands gründet der von den Architekten Taller Capital entworfene Park in der Stadt Ecatepec. Rund 600 Meter kiesgefüllte Plateaus mit Betonstützmauern verbinden zwei von Armut geprägte Quartiere oben und unten am Hang. Sie fördern zugleich die Versickerung und damit den Schutz vor Überschwemmungen. Die verbindende Wirkung wird durch die Verlängerung der populären Strassen verstärkt, die bereits in den umgebenden informellen Siedlungen existierten. So wird der Park stellenweise von Betonstreifen mit Treppen und Rampen durchzogen, die beide Wohngebiete für Jung und Alt zugänglich machen. Früher war das undenkbar, weil zu gefährlich. Das vertraute Bild der Strasse führte zu einer raschen Aneignung und zu neuen Treffpunkten. Hier befinden sich auch Kinderspielplätze und Sportgeräte. Auf den Kiesplateaus sorgen alte Bäume sowie neue Pavillons für wertvollen Schatten. Von dort aus können die Zuschauer die lebhaften Fussballpartien auf den fünf Feldern verfolgen.
Der Park ist tagsüber ein grosser Erfolg. Zweifellos ist die neue Gestaltung von Taller Capital eine Verbesserung gegenüber der vorherigen Anlage, die verwahrlost, eingezäunt und daher unübersichtlich und gefährlich war. Doch wir befinden uns in der Stadt Ecatepec, eine Autostunde von der Hauptstadt entfernt –, an einem der gefährlichsten Orte, insbesondere für Frauen, weltweit. Die Anwohnerinnen berichten, dass die nächtliche Unsicherheit rund um den neuen Park weiterhin enorm ist: Die Stadtverwaltung setzt angeblich die dringend benötigte, neue Beleuchtung nicht ein. Trotz aller Bemühungen von Architekten und Stadtplanern sind diesen letztlich die Hände gebunden, wenn es um den Erfolg ihres Projekts geht.
Die Aufbruchstimmung unter den Architektinnen und Architekten, die mit öffentlichen Aufträgen beauftragt werden, ist erfrischend und wird der Architektenschaft hoffentlich langfristig ihre gesellschaftliche Verantwortung bewusst machen. Den von AMLO grossspurig angekündigten «sozialen Wandel» wird die landesweite Turbo-Akupunktur nicht herbeiführen. Und doch kann die Architektur in vielen Fällen die Lebensqualität der Menschen, die es bitter nötig haben, verbessern.