Publiziert im Dezember-Heft 2020 der Zeitschrift werk, bauen + wohnen
Mit dem Serpentine Pavilion 2018 wurde die 1979 geborene mexikanische Architektin Frida Escobedo in Europa bekannt. Das Thema des traditionellen mexikanischen Patio mit teilweise durchlässigen Wänden – im Serpentine Pavilion aus gestapelten Dachziegeln – prägt in veränderter Erscheinungsform auch ihr Wohnhaus an der Calle Mar Tirreno 86 in der mexikanischen Hauptstadt.

Publiziert im Dezember-Heft 2020 der Zeitschrift werk, bauen + wohnen
Architektur für den Mittelstand
Angesichts der rasant steigenden Wohnungspreise im Herzen von Mexikos Hauptstadt nimmt die Attraktivität der Stadtviertel in unmittelbarer Nähe des Zentrums zu. Im Viertel Popotla sind die Quadratmeterpreise für Immobilien mindestens um die Hälfte tiefer als im Geschäftsbezirk Polanco, zehn Autominuten entfernt. Anders als im teuren Polanco sind die Strassen im Arbeiterviertel Popotla in schlechtem Zustand, ein Gewirr von Kabeln verhängt den Blick nach oben, lärmige Metallwerkstätten sowie Strassenhändler, die lautstark für ihre Produkte werben, bilden die Geräuschkulisse. Die etwas raue Nachbarschaft, deren Strassen nach Meeren benannt sind, gilt im Vergleich zum Rest der Agglomeration von Mexiko-Stadt als relativ sicher.
In dieser Szenerie sollte nun ein einzigartiges Wohnprojekt von der Architektin Frida Escobedo geschaffen werden. Die Immobilienentwicklerin Desarrolladora WELT lud sie 2017 ein, das zeitgenössische Wohnen neu zu überdenken. Die Käuferschaft von WELT ist die wachsende obere Mittelschicht auf der Suche nach bezahlbarer und zugleich einmaliger Wohnqualität. Das Bauunternehmen setzt auf hochwertige Architektur und bedient damit einen Nischenmarkt. Die Herausforderung bei dieser Strategie liegt in der Tatsache, dass die Kundschaft sich von den bereits in der Nachbarschaft lebenden Menschen unterscheidet: Sie führt zur Gentrifizierung volkstümlicher Quartiere.
Patio und Celosia
Für ihr Werk in Mar Tirreno griff Frida Escobedo auf Themen zurück, die in der mexikanischen Wohnkultur verwurzelt sind – Themen, die sie 2018 auch für ihren Entwurf des Serpentine Pavilion in London ergründet hatte: den Patio und die Celosia, ein Fenstergitter, das Licht filtert und Ventilation zulässt.
Das filterartige Gitterwerk der Celosia besteht in Mar Tirreno aus grau-braunen Betonziegeln, die so geformt und gesetzt wurden, dass eine Spitze nach aussen zeigt. Die gesamte Fassade ist mit Betonbausteinen verkleidet – abwechselnd mit perforierten und massiven Steinen. Aus dem einfachen, modularen Material, das in Mexiko vor allem in den ärmeren Gebieten weit verbreitet ist, entwarf die Architektin eigene Ziegelformen in einer wärmeren Farbe, indem sie dem Beton ein Aggregat hinzufügte. Die Betonziegel können ohne weitere Oberflächenbehandlung sichtbar belassen werden. Die einheitliche, sechzehn Meter hohe Fläche, die eine Strassenecke besetzt, verbirgt die Fenster der verschiedenen Wohnungen. Die einzigen Öffnungen in der Betonfassade sind drei überhohe Durchbrüche, die als Patios der Wohnungen erkennbar sind. Das Ensemble wirkt monolithisch, keineswegs aber monoton. Die subtil rhythmisierte Fassade besticht durch ihre ganz eigene Schönheit: die Poesie der Härte.
Nachbarschaft im Kleinen
An der Ostfassade, die der Strasse Mar Tirreno folgt, führen einige Stufen zum erhöhten Eingang. Ein tiefer, schluchtartiger Einschnitt teilt den Wohnblock der Länge nach mittig in zwei hohe, schmale Volumen. Das grosse Eingangsportal aus Stahl wird flankiert von zwei grossen Eschen. Vor uns liegt eine imposante architektonische Schlucht aus nur einem Material: dem Betonziegel. Die hohen Wände mit engen Falten bilden die Kulisse. Der Bodenbelag aus einzelnen Ziegeln ergibt ein eigenes Muster. Beim Blick nach oben mag man sich klein fühlen, aber die Aussicht in den Himmel, eingerahmt von den gezackten Umrissen der Wände, ist einzigartig.
Der schmale, korridorartige Innenhof vermittelt den Übergang zwischen Öffentlichkeit und der Halböffentlichkeit der Hausgemeinschaft. Die Architektin Escobedo formuliert hier die traditionelle Wohntypologie der Arbeiterklasse, die Vecindad – Nachbarschaft – neu. Diese gemeinschaftliche Wohneinheit entwickelte sich aus dem spanischen Hofgebäude der Eroberer Mexikos, in dem Wohnungen auf einer oder beiden Seiten eines gemeinsamen Patios, dem Hauptzugang, angeordnet sind. Der Patio ist das pulsierende Herz, dient als Erschliessungsfläche, dem Zutritt von Licht und Luft sowie der Erweiterung der Wohnfläche für die winzigen Wohnungen. Hier wird gekocht, gewaschen, gespielt und füreinander gesorgt. Die Bewohner identifizieren sich mit ihrer Vecindad. Diese Wohnform ist auch heute noch sehr häufig in den volkstümlichen Quartieren von Mexiko-Stadt anzutreffen.
Nähe und Intimität
Im Vergleich zur herkömmlichen Vecindad ist die nach innen gerichtete Struktur in Mar Tirreno deutlich weniger lebhaft. Sie ist hier vor allem ein schöner, aber stiller Raum, der die Wohnungen erschliesst. Der Wohnkomplex ist eine kleine Welt für sich, bestehend aus neun Wohnungen, Räumen für das Wachpersonal und einer Tiefgarage. Die Maisonetten sind sowohl im Grundriss als auch im Schnitt zueinander versetzt, um die beste natürliche Beleuchtung und Privatsphäre zu erreichen.
Zentrales Element sind die privaten Loggien mit zweigeschossiger Fensterfront, die an drei Seiten vom Wohnraum umgeben sind und Licht auch in den Innenraum bringen. Den Einblick in die Wohnungen und die privaten Loggien verwehren deren schachbrettartige Anordnung und das Betonraster der Celosia. Das direkte Gegenüber ist immer eine rhythmisierte Wand. Es entsteht ein grosszügig dimensionierter Aussenraum, der, wie in Mexiko-Stadt aufgrund des milden Klimas üblich, als Erweiterung des privaten Wohnraums genutzt werden kann.
Gerade an einem so lebhaften Ort ist ein solch geschützter Aussenraum wertvoll. Das Gefühl, ein eigenes kleines Häuschen mit Aussenraum in einer schönen Nachbarschaft zu besitzen, könnte als die richtige Strategie angesehen werden, um die regelmässige Stadtflucht vieler Hauptstädter am Wochenende einzudämmen. Das Spiel mit den Graden von Intimität und Durchlässigkeit, Verstecken und Sichtbar-machen, Schutz und Ausblick entspringt einer persönlichen Vorliebe von Frida Escobedo. Auch Zeit spielt bei der Architektin immer eine Rolle. Durch den eingerahmten Raum zwischen den Häusern wird das Licht so gefiltert, als sei das Gebäude eine grosse Sonnenuhr. Wir spüren buchstäblich, wie die Zeit vergeht, geschützt an einem Ort, der das bunte Chaos von Mexiko-Stadt fernhält.